Durch die Nacht mit Leila Slimani und Kamel Daoud

Leïla Slimani, in Marokko geboren, ist – seit sie mit „Chanson Douce“ den Prix Goncourt gewonnen hat – der Shootingstar der französischen Literaturszene. Kamel Daoud, einer der bekanntesten algerischen Journalisten hat sich, nach dem Skandal um seine Islamkritik, die ihm sowohl eine Fatwa eines algerischen Imams als auch ein öffentliches Tribunal französischer Intellektueller einbrachte, ganz seinem schriftstellerischem Schaffen gewidmet. Mit „Meursault – eine Gegendarstellung“ hat er dem erschossenen Araber aus „Der Fremde“ von Albert Camus Gesicht und Stimme gegeben. „Diese Geschichte muss neu geschrieben werden, in der gleichen Sprache, aber diesmal, wie das Arabische, von rechts nach links.“

Slimani und Daoud begegnen sich im Jardin du Luxembourg. Dieser Park ist in der nachmittägli-chen Hitze eine Oase für Lesende. Die nicht französischen Nannys, die hier im Park die Kinder der bourgeoisen Familien hüten, haben Slimani zu ihrem Roman „Chanson Douce“ inspiriert, in wel-chem das Kindermädchen die anvertrauten Babys ermordet. Ein psychologischer Thriller über eine moderne Familie. Beide Schriftsteller spüren den Spagat zwischen den Kulturen. Sie stellen fest, dass sie beide über den „arabischen Judas“ schreiben wollen.

Im Café Palette genießen sie die Atmosphäre der Künstler von Saint Germain de Prés, hier haben Camus, Sartre und de Beauvoir den Mythos des intellektuellen Paris begründet. Wie haben beide den plötzlichen Erfolg empfunden, wie gehen sie mit der Erwartungshaltung der Kulturindustrie um? Vielleicht als nächstes „Der Mann und das Meer“ aus der Sicht des Schwertfisches schreiben? Sie verabreden, einen öffentlichen Briefwechsel über das vergiftete algerisch- marokkanische Ver-hältnis zu beginnen, um der Kriegstreiberei der Politiker ihres Landes etwas entgegenzusetzen.
Im Institut du Monde Arabe treffen sie auf den algerischen Schauspieler und Filmemacher Lyes Salem. Salem stellt seinen Film „L’Oranais“ vor, der die postkolonialistische Geschichte Algeriens erzählt. Wie aus Revolutionshelden Apparatschiks werden.

Victor Hugo ist als Schriftsteller von „Les Misérables“ ein künstlerisches Vorbild für Leïlas Slima-ni und Kamel Dauod, die ihr Schreiben immer auch als politischen Akt verstehen. Im Maison Vic-tor Hugo entdecken sie die Bilder, die der Meister gemalt hat, und überlegen, ob für ihre Arbeit auch ein Stehpult in Frage kommt, an dem Hugo geschrieben hat. Beim Anblick der stark bearbeite-ten Manuskripte tauschen sie sich über Vor- und Nachteile der Arbeit am Computer aus. Wie schreiben sie, wie arbeiten sie? Beide geben zu, im Liegen zu schreiben. Daoud erzählt aus seiner Kindheit, sein Großvater war Holzfäller, die französische Sprache hat er sich selbst beigebracht – oft mit erotischen Büchern, die Rousseau „die Bücher, die man nur mit einer Hand liest“ nennt. Sie erkennen, dass für beide die französische Sprache weiblich, die arabischen hingegen männlich ist.

Über dem Pont Neuf erleben sie den Sonnenuntergang im sommerlichen Paris. Daoud beklagt, dass es in Algerien den Bürgern so schwer gemacht wird, den öffentlichen Raum für sich zu nutzen. Selbst wenn er sich mit seiner Frau ans Meer setzt, wird er nach einer Genehmigung gefragt.
Während der blauen Stunde essen sie auf einer Dachterrasse mit einem überwältigendem Blick auf Notre Dame und das dunkel werdende Paris. Sie tauschen sich über persönliche Erlebnisse aus, die sie zu den Schriftstellern gemacht haben, die sie heute sind. Die Gewalt, die sie im Maghreb erlebt haben, das Heuchlertum, den Aufstieg der Islamisten.. Das Schreiben ist für sie ein Weg, das Dun-kel auf Distanz zu halten. Das Pigalle mit all den kleinen Clubs, vielen jungen Leuten und leichten Damen kannte Daoud gar nicht. Slimani, die nicht weit davon entfernt wohnt, zeigt ihm ihre liebs-ten Bars. Ihr neuer Roman handelt von der Sexualität der marokkanischen Frauen. Im letzten Kapi-tel gibt es eine Hommage an Kamel Daoud, der nach den Übergriffen von Köln so entschieden das Frauenbild in der nordafrikanischen Gesellschaft kritisiert hatte: „In der arabischen Welt haben wir eine kranke Beziehung zur Frau. Wer aber eine kranke Beziehung zur Frau hat, hat auch eine kran-ke Beziehung zur Welt, was seine Kreativität, seine Freiheit, seinen Körper und seine Begierden betrifft. Wie können wir das Leben lieben, ohne die Frau zu lieben? Wer die Frauen einschließt, macht die Männer zu Gefangenen.“ Schließlich treffen sie in einem typischen Pigalle Etablisse-ment, das noch die Atmosphäre vergangener Zeiten atmet, die Sängerin Hindi Zahra, deren Wur-zeln bei den Berbern Marokkos liegen. Sehr zart singt sie zur Gitarre ein paar Lieder, die drei tau-schen sich über ihre musikalischen Bezüge aus, dann läßt es sich der Gentleman Kamel Daoud nicht nehmen, Leila Slimani sie nach Hause zu begleiten. Dabei rezitieren und singen sie „Les vieux amants“ von Jacques Brel, den sie beide sehr verehren.

Wir erleben an diesem Abend die Annäherung zweier charmanter Schriftsteller, die sich über ihr Leben, die Kunst, die Politik und die kulturelle Identität unterhalten, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Beiden droht die Wut fanatischer Islamisten, wie auch verblendeter westlicher Intellek-tueller. „Hast Du Angst“ fragt Slimani Daoud. „Immer“ sagt er. „Aber es gibt keinen anderen Weg. Man muss weitermachen. Mut bedeutet nicht, keine Angst zu haben, sondern mit der Angst zu le-ben, und ihr einen Sinn zu geben“.

 

Länge: ca. 52 Min.
Ein Film von Andreas Nickl D 2017
Produktion Cordula Kablitz-Post, avanti media fiction
Redaktion Martin Pieper
Ausstrahlung auf ARTE am 15.10.17 um 22.45 Uhr